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Ich sehe was, das du nicht siehst!

Oder: der Check-up-Beauftragte.

 

 

Der Klassiker: man geht „mal eben schnell“ in die Stadt. Hat Dinge zu erledigen, Einkäufe zu tätigen. Meist versucht man dabei, Hindernissen auszuweichen, auf niemanden aufzulaufen, rasch von A nach B zu gelangen, ... Hektik, Stress, schnell, schnell. Der Blick reicht über den Vorgänger nicht hinaus und nicht höher als die Schaufensterfronten. Wir sehen sehr selektiv. Nicht umsonst spricht man vom „Tunnelblick“. 

 

Ich kenne das auch sehr gut von Stadt- und Museumsführungen. Gelegentlich bin ich danach schon (manchmal recht empört) angesprochen worden, dass ich nicht gegrüßt hätte... [Hier noch einmal Entschuldigung für all die Male, wo dies schon passiert ist und auch schon vorweg für die Gelegenheiten, zu denen es wahrscheinlich wieder vorkommen wird. Es geschieht nie aus Absicht!] Auch ich bin dann im Tunnel – fokussiert auf die Gruppe, auf das Thema, auf vieles, aber wenig auf das, was links und rechts passiert.

 

Die Bequemlichkeit

Anders im Urlaub, zu Zeiten des Müßiggangs: wir schlendern, wir genießen, wir riechen, wir sehen – scheinbar ist da plötzlich mehr um uns herum. Nun ja, zumindest nehmen wir mehr wahr. Haben Zeit und Lust, uns darauf einzulassen. 

 

Ich plädiere ja dafür, dass man regelmäßig auch einmal „Tourist in der eigenen Stadt“ spielen sollte. Vielleicht sogar mit Kamera ausgestattet. Am besten an einem ruhigen Tag - vielleicht sonntags – wenn nicht zu viel Gewusel um uns herum ist. Spannend, was man plötzlich sieht! War das schon immer da? Hatte dieses Gebäude schon immer jene Farbe? Und da, diese Bank, die stand doch beim letzten Mal noch nicht dort. ...oder haben wir sie bislang einfach nicht wahrgenommen?

 

Tatsächlich ist das so eine Marotte unseres Oberstübchens, ein Überbleibsel aus den Zeiten, zu denen uns noch Gefahr von wilden Tieren drohte. Es erfolgt im Grunde genommen ein ständiger Check-up: Sehen, erkennen, einstufen – sieht aus wie immer, ok, weiter. Eine prima Einrichtung eigentlich. Und ja auch irgendwie sinnvoll. Auch heute noch. Aber darin liegt auch genau der Alltag begraben... Unser Gehirn mag es bequem. Wir auch. 

 

Der Check-up-Beauftragte

Wieder in die Eingangs geschilderte Situation zurück. Stadtmitte. Menschen. Häuser. Autos. Zwischendrin wir. Und unser „Check-up-Beauftragter“ zwischen den Ohren. Sehen, erkennen, einstufen – sieht aus wie immer, ok, weiter. 

Sehen, erkennen, einstufen – sieht aus wie immer, ok, weiter. 

Sehen, erkennen, einstufen – sieht aus wie immer, ok, weiter. 

Sehen...

...nochmal sehen..., häää? 

Erkenn ich nicht. 

Kommt mir irgendwie bekannt vor, aber was ist das? [Das ist dann die nächste Stufe: wir versuchen etwas zu finden, dass dem neuen Objekt ähnelt. Ganz häufig passiert das bei der Betrachtung abstrakter Kunst. Wir wollen - ja wir müssen sogar – etwas sehen, das unseren Check-up-Beauftragten zufriedenstellt und die Ruhe zurückbringt. Keine Gefahr, alles gut. Deshalb sehen wir in Kaffeeflecken, Wolken und Tintenklecksen auch Dinge. Oder eben in Werken von Wassily Kandinsky. Joan Miró. Die da aber nicht sind. Sondern die da sein sollen. Sagt der Check-up-Beauftragte.]

 

Na ja und dann passiert eben auch manchmal das:

Sehen, erkennen, einstufen – sieht aus wie immer, ok, weiter. 

Sehen, erkennen, einstufen – sieht aus wie immer, ok, weiter. 

Sehen...

Da ist ja gar nichts...

Nochmal überprüfen...

Nö. Wirklich nichts da.

War da nicht immer was?

Was denn eigentlich?

 

Der „Christo-Effekt“

Ich nenne es den „Christo-Effekt“. Christo und seine Partnerin Jeanne-Claude haben in den 1960er Jahren damit begonnen, gemeinsame Kunst-Aktionen durchzuführen. Objektkunst. Sie haben viele Dinge, Orte, Gegenstände verhüllt. Küsten in Australien. Pont Neuf in Paris. Den Reichstag in Berlin. Bäume im Park der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel. Die letzte Aktion, die Christo vor seinem Tod im Mai 2020 noch geplant hat, war die Verhüllung des Arc de Triomphe. Ursprünglich sollte die Aktion im April stattfinden, ist aber mehrmals verschoben werden und soll nun wohl im Herbst 2021 stattfinden. 

 

Über die Aktionen selbst kann man denken wie man möchte. Und wir diskutieren jetzt auch nicht die Frage, ob das Kunst ist. Auch nicht die Einwände der Natur- und Umweltschützer. Und nicht über den Kommerzgedanken. Wir nehmen diese Aktionen als ein Beispiel, wie etwas (wieder) in unser Bewusstsein gerückt werden kann. Das ist es, was ich weiter oben als „Christo-Effekt“ bezeichnet habe. Manches wird uns erst (wieder) bewusst, wenn es nicht mehr da ist. Oder wenn es verhüllt ist. Das kennen wir aus dem Alltag, wenn ein Gebäude eingerüstet und mit einer Plane, einem Netz verhüllt ist. Erst dann fragt man sich oft, was eigentlich darunter oder dahinter verborgen ist. Welche Farbe das Gebäude wohl hatte. Ähnlich beim Berliner Reichstag. Dessen Verhüllung steht heute noch als ein Symbol für den Mauerfall und die Wiedervereinigung Deutschlands. 

 

Der Reichstag

Der Grundstein für das Gebäude wurde – nach zähem Ringen um Aussehen, Standort, ... – 1884 gelegt. Die Pläne stammen von dem Architekten Paul Wallot, der aus der Weinstadt Oppenheim stammte und seinen großen Durchbruch mit dem Sieg im Wettbewerb um die Gestaltung des Reichstagsgebäudes schaffte. Zehn Jahre später war es dann fertig gestellt, im Stil der Neorenaissance, zeittypisch. Mit Kuppel. Die allerdings war eine mittelschwere Herausforderung, sollte ursprünglich gar nicht über dem Plenarsaal, sondern über dem Foyer sein, höher geplant war sie auch, wurde dann niedriger ausgeführt, weil die Wände die Last sonst nicht getragen hätten. Schlussendlich war sie dann auch aus Glas und Stahl und nicht massiv. Und es kam Licht in den Plenarsaal. Übrigens hatte der Kaiser (Wilhelm II.) höchst selbst Einwände gegen die Kuppel – sie war höher als die des Stadtschlosses und gab so dem Parlament mehr Gewicht. Ein Dorn im Auge des Kaisers! Ach, überhaupt fand er das Gebäude nicht so richtig doll, konnte dann auch den Architekten nicht mehr leiden, den er anfangs noch unterstützt hatte. Egal, 1894 war der Reichstag fertig, bezahlt aus den Reparationszahlungen Frankreichs aus dem Krieg 1870/71. 

 

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde umgebaut. 1933 brannte es im Reichstag, aus der Kuppel schlugen Flammen, der Plenarsaal wurde zerstört. Bis heute sind hier viele Fragen offen nach dem warum, wer und überhaupt... Die Kuppel notdürftig saniert, das Gebäude als Luftschutzbunker genutzt, als Produktionsstätte, als Lazarett, als Geburtsstation,... 

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg Ruine. 1954 wird die Kuppel aus vermeintlich statischen Gründen gesprengt. 1955 beschließt man die komplette Wiederherstellung – ohne Kuppel. Sie erfolgt im Stil der 1960er: geradlinig, pragmatisch. Und dann kam die Teilung Deutschlands und Berlins – direkt neben dem Reichstagsgebäude verlief die Mauer und das Bauwerk selbst wurde (noch mehr) zum Symbol. Diente jetzt als Museum.

 

Nach der Wiedervereinigung dann der Umbau, der 1999 abgeschlossen war und von Norman Foster geplant wurde. Mit Kuppel, um die es wieder Streit gab...

 

Aber vorher, 1995, die Verhüllung des Gebäudes durch Christo und Jeanne-Claude. (Übrigens schon in den 1970ern erstmals geplant!). In zwei Wochen kamen fünf Millionen Besucher. Das nun „unsichtbare“ Gebäude wurde zum nationalen Symbol, zum internationalen Besuchermagneten. Und damit sichtbar. Christo-Effekt. 

 

Disruption

Funktioniert übrigens im Kleinen ebenso gut wie im Großen. Disruption könnte man vielleicht auch sagen. Auf alle Fälle aber neu-denken, neu-sehen. Und dazu braucht es wohl die Irritation. Tut ganz gut, sich ab und zu mal irritieren zu lassen! Bringt neue Ideen, andere Gedanken und ist ganz erfrischend für den Check-up-Beauftragten. Kann man provozieren, herbeiführen, selbermachen. Zum Beispiel bei einem (bewussten) Spaziergang durch das eigene Umfeld, den Wohnort.

 

Also: ich sehe was, das du nicht siehst... Viel Spaß!

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