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Living in a material world    

 

Madonna hat 1984 auf ihrem Album “Like a virgin“ den Song „Material Girl“ gesungen, in dem sie sich selbst als eine auf materielle Dinge fixierte Person darstellt. Ha, ha, nein, von mir kommt heute kein Geständnis in diese Richtung. Und keine Angst, anfangen zu singen tue ich auch nicht! Nein, mir geht es um die materielle Welt im wahrsten Sinne des Wortes, um DAS MATERIAL. 

 

Material war nämlich ganz schön lang in der Kunstgeschichte ziemlich wenig beachtet. Es ist noch gar nicht so lange her, dass man wirklich systematisch Material zum Forschungsgegenstand gemacht hat. Schon interessant, denn schließlich besteht „die Kunst“ nun mal aus den allerunterschiedlichsten Materialien: Leinwand, Marmor, Gold, Pigmente, Gips, Ton, Messing, Sandstein, ... die Liste ließe sich fortsetzen – ziemlich lang. Tatsächlich spielte ja für die Kunstproduktion und auch für die ästhetische Wirkung des Kunstgegenstandes das Material eine ganz entscheidende Rolle. Man stelle sich einmal vor, die Griechen hätten ihre Skulpturen nicht aus Marmor, sondern aus Holz gefertigt! Mal abgesehen davon, dass wir dann heute nur noch sehr wenig bis gar nichts mehr davon hätten, wäre ja auch die Wirkung eine ganz andere gewesen. Nichts: ohhh, wie schön glänzend, kalt, edel! Nein: rau, spröde, rissig, stumpf wären sie gewesen, die Götterdarstellungen, die Philosophen, die Gelehrten.  Trotzdem hat man dem Material an sich kaum eine Bedeutung zukommen lassen. 

 

Na klar, werden bestimmte Materialien zu gewissen Zeiten für verschiedene Dinge eingesetzt. Auch in der Kunst. Es haben sich sogar regelrechte Hierarchien herausgebildet, die als „Quasi-Symbole“ dienen. Gold (als Material) nur für bestimmte Herrschaften und so. Und na klar sind Materialien schon immer auch einem Bedeutungswandel unterworfen gewesen und sind es immer noch. Stärker sogar noch seit der Industrialisierung und dem Aufkommen von „Ersatzmaterialien“. 

 

Adolf Loos, der Wiener Architekt hat Ende des 19. Jahrhunderts in einem Vortrag gefragt: „ Was ist mehr wert, ein Kilo Stein oder ein Kilo Gold?“ Er antwortet sich selbst: „Die Frage erscheint wohl lächerlich. Aber nur für den Kaufmann. Der Künstler wird antworten: Für mich sind alle Materialien gleich wertvoll.“ Loos spielt darauf an, dass bei Kunstwerken der künstlerische Wert im Vordergrund stehe und nicht der Materialwert. Das Material war quasi der Diener, der Träger einer Botschaft.  Es ging um das Geschaffene, das wie – nicht das woraus. Tatsächlich schrieb Ovid in seinen Metamorphosen „materiam  superatbat opus“ – das Material wurde durch das Werk übertroffen. Naja und das hat man schön über Jahrhunderte hinweg aufrecht erhalten. 

 

Materialgerechtheit oder Materialgerechtigkeit nennt man das. 

 

Material der Funktion entsprechend auswählen. Hat auch Platon so empfunden. Laut dem, was er Sokrates in den Mund legte[1], wäre es Quatsch, zum Rühren von Hirsebrei (mmmmh, lecker) einen goldenen Quirl zu verwenden. Das Gold macht den Quirl nicht besser, schöner oder funktionsfähiger – im Gegenteil. Platon war der Meinung, das solch ein Rührgerät unangemessen und deshalb hässlich (!) sei. Funktion und Material sollten also einander entsprechen. 

 

Das ist alles schön und gut und lässt sich lange Zeit genauso umsetzen. Aber dann kommt die Industrialisierung. Und neue Materialien. Gusseisen zum Beispiel. Das war für Ingenieursbauten ok, Bahnhöfe, Brücken – aber bitte schön nicht woanders. (Fand jedenfalls Gottfried Semper – der mit der gleichnamigen Oper in Dresden und des Polytechnikums in Zürich.) Der hat sogar Kautschuk als „den Affen unter den Nutzmaterien“ bezeichnet[2].

 

So und das setzt sich fort und zieht sich durch. Ich habe letztens erst (aufgrund der aktuellen Hygienemaßnahmen im Zuge der Corona-Verordnungen) Wein in Pappbechern ausschenken müssen. Ist auch nicht ok! Und wer denkt da bitte nicht, dass der Wein aus einem Glas anders (besser?) schmeckt als aus einem Pappbecher? 

 

Überhaupt, Pappe. 

 

Das ist tatsächlich eines der sogenannten „armen Materialien“. Filz übrigens auch. In der Kunst ab den 1960ern kommt der übrigens zum Einsatz. Joseph Beuys zelebriert ihn geradezu, adelt ihn. Trägt im Übrigen selbst auch immer einen Filzhut. Filz ist aber bis dahin ein „kunstfremdes Material“. Nimmt man nicht, macht man nicht. Mittlerweile hat das Material einen regelrechten Boom erlebt. Vielleicht hatte Beuys nicht so ganz wenig damit zu tun. In seinen Aktionen setzt er den Filz ein als etwas Schützendes, Wärmendes. Gerne auch mit Fett zusammen. Gerne wird das dann mit der Legende (?) in der Biografie Joseph Beuys erklärt. Als Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg abgestürzt über der Krim. Von Tartaren gefunden, mit Fett eingerieben und in Filz gehüllt. Den Wahrheitsgehalt lassen wir einfach mal so dahin gestellt. Tut auch nichts zur Sache. Filz war in der Zeit als Gebrauchsmaterial weit verbreitet. Für die Soldaten im Krieg sogar überlebenswichtig. 

 

Grausige Tatsache zu diesem Material: Nachweislich wurden in der Filzindustrie während des Zweiten Weltkrieges die Haare von KZ-Opfern verarbeitet...

 

Zurück zum Thema Materialgerechtheit. Spielt natürlich auch in der täglichen Anwendung, im Design für uns eine ganz entscheidende Rolle. Wer fasst nicht gern „schöne“ Dinge an. Das ist so was: manchmal reicht das Sehen mit den Augen einfach nicht aus, dann muss man auch noch fühlen. Oh und dann komm ich noch zu so einer Verwirrung der Sinne im Bezug aufs Material!

 

Schnell, wenn es nicht bekannt ist, bitte einmal Dr. Google fragen nach „Déjeuner en fourrure“. Das ist die Skulptur von Meret Oppenheim aus dem Jahr 1936. Eine Teetasse inklusive Untertasse die komplett mit Fell überzogen ist. Ein Gegenstand, den wir im surrealistischen Kontext verorten können. Na und nun: Vorstellungskraft aktivieren (ich bekomme schon beim bloßen Schreiben eine Gänsehaut). Trinken. Aus dieser Tasse. Brrrrr. Das ist etwas, was gar nicht geht, oder? Grauselige Vorstellung. Das Fell an den Lippen. Oh, ok, ich muss jetzt tatsächlich aufhören! Meine Vorstellungskraft ist ziemlich gut und 

das. 

ist. 

eklig. 

 

Stichwort Materialgerechtheit. Wird klar, spätestens mit diesem Beispiel, oder? Ist so ein bisschen wie overdressed zu einer Veranstaltung erscheinen! Geht schon, ist aber komisch! 

 

Spielen mit Materialien macht übrigens viel Spaß. Und mal bewusst Akzente setzen mit „armen Materialien“ auch. Viel Spaß beim Ausprobieren!

 

 



[1] In dem antiken literarischen Dialog „Hippias Maior“ – einem fiktiven philosophischen Gespräch zwischen Sokrates und Hippias von Elis

[2] In seinem Buch „Der Stil“ (1860)

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