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The perfect imperfect

 

Unsere westliche Welt ist geprägt von einem unglaublichen Perfektionismus. Alles sollte im Idealfall noch schöner, noch besser, noch - ja, was denn überhaupt – sein... Und vor allen Dingen: was ist eigentlich „schön“ und „besser“?  

 

In der Kunst begegnet uns dieses Ideal schon in der Antike: dargestellt in der griechischen und römischen Skulptur wird der ideale, athletische Körper. Glatt, faltenlos, muskulös, ... die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Erst mit dem Hellenismus (336 – 30 v. Chr.) taucht eine Sitzstatue auf, die von diesem Bild abweicht: die sog. „trunkene Alte“. Eine realistische Darstellung einer älteren Frau, die mit angewinkelten Beinen auf dem Boden sitzt und in ihrem Schoß mit beiden Händen eine Flasche festhält. Durch das heruntergerutschte Gewand wird der Schulterbereich sichtbar, an dem die Knochen spitz hervortreten. Die Haut ist so dünn, das darunterliegende Adern, Sehnen, Muskeln sichtbar werden. Der Kopf der Frau ist leicht nach links oben geneigt, der Mund leicht geöffnet, man sieht ein paar Reste von Zähnen. Um die Augen zeichnen sich Krähenfüße ab.

 

Man tut sich schwer mit der Einordnung dieser Sitzskulptur. Sie passt so gar nicht in „das Bild“. Entstammt sie der Welt des Theaters? Der Komödie? Ist es die eine Möglichkeit, dem Perfekten, Schönen etwas entgegenzusetzen? Oder hat sich hier ein Bildhauer einen Scherz erlaubt? Oder ist es ein Hinweis auf die Endlichkeit des Lebens? Oder...

 

Ach und dann ist da ja auch noch diese Idee von der antiken Skulptur, die weiß erstrahlt, eine glatte Oberfläche hat. Hartnäckig hält sich in unseren Köpfen das Bild, dass in der Renaissance gezeichnet wurde. In dieser Zeit wurde bei Bautätigkeiten zum Beispiel in Rom unzählige Statuen freigelegt und die waren nun einmal farblos. Also blanker Stein. Naja, und dann dachte man, das gehört so. Man wusste es ja nicht besser. Selbst als man 1503 auf die mächtige Laokoon-Gruppe stieß und an ihr tatsächlich Farbreste fand, versuchte man, dies auf spätere Verunzierungen zu schieben. Man hielt fest am Ideal. 

 

Ende des 19. Jahrhunderts wurde aber (durch vermehrte Funde) klar: mmmmh, war wohl doch nichts mit dem weißen Marmor. Doch die Forschung und deren neueste Ergebnisse wurden im 20. Jahrhundert wiederum geleugnet, man bezeichnete die farbig-gefassten Skulpturen als Schwindel, als Fälschung. Allzugern wollte man festhalten an etwas, was doch viel eher einem Ideal entsprach, eine Ästhetik widerspiegelte, die besser ins Weltbild passte – vor allem dem des Faschismus... Die Verdrängung funktioniert, zumindest eine Zeit lang. In den 1960ern nahm die Forschungstätigkeit auf dem Feld der Polychromie, also der Vielfarbigkeit, wieder zu und siehe da: an immer mehr Skulpturen ließen sich Farbpigmente ausmachen, die antike Welt wurde bunter.

 

Ideale verändern sich. 

 

Trotzdem optimieren wir. Die Kunst, unsere Umwelt, uns. 

 

Fehler sind nicht gern gesehen. Scheitern ein „No go“. 

Aber auch hier tut sich etwas. Zum Glück. Fast könnte man sagen, scheitern wird modern. Das Unperfekte gewinnt an Bedeutung. Und auch da wieder die Frage: was ist eigentlich unperfekt? Und: wer bestimmt, wann etwas, wann man, gescheitert ist?

 

Werfen wir einen Blick über unseren europäischen Kontext hinaus. Schauen wir nach Japan. Hier gibt es ein eng mit dem Zen-Buddhismus verwandtes Konzept der Ästhetik, Wabi-Sabi. Keine Kunstrichtung, sondern vielmehr eine Kultur. Eine Sichtweise. Eine Philosophie.

 

Als (historische) Wurzel wird auf den japanischen Zen-Mönch und Teemeister Sen no Rikyū

 (1522-1591) verwiesen. Von ihm erzählt man sich folgende Anekdote, die zugleich deutlich macht, was Wabi-Sabi verkörpert: „Der junge Zen-Mönch Sen no Rikyū wollte Cha-Dô, den Weg des Tees, erlernen. Deshalb suchte er den berühmten Teemeister Takeno Jôô auf. Der Meister befahl Rikyū, den Garten zu säubern, woraufhin sich dieser sofort an die Arbeit machte. Er fegt und rechte, bis der Boden in perfekter Ordnung war. Als er fertig war, hielt Rikyū inne und betrachtete sein Werk. Dann schüttelte er den Kirschbaum, sodass ein paar Blütenblätter wie zufällig zu Boden fielen. Als Teemeister Jôô das sah, nahm er Rikyū in seine Schule auf.“

 

Das perfekte Unperfekte. Wabi-Sabi.

 

„Wabi“ bedeutet Einfachheit, Vergänglichkeit, Fehler und Unvollkommenheit. 

„Sabi“ ist die Wirkung der Zeit auf etwas, auf ein Objekt. 

 

„Wabi-Sabi“ ist also die Ansicht, Schönheit in jedem Aspekt zu finden. Natürlich – nicht künstlich. Entstanden, entwickelt – nicht erzwungen. 

 

Vielleicht wird es noch deutlicher, wenn wir uns dazu einen Alltagsgegenstand vorstellen. Eine Kaffeetasse. Ok, in diesem Zusammenhang vielleicht auch eine Teetasse... Also: Tasse. Ich mag meine uralte Tasse, die ich seit Jahrzehnten mitumziehe. Die hat Macken, Risse. Aber Heißgetränke schmecken aus ihr nun mal am besten. Und wenn sie herunterfallen würde, würde ich sie kleben. Und weiterverwenden. Auf keinen Fall wegwerfen. 

 

Vielleicht könnte man „wabi-sabi“ auch mit „Persönlichkeit“ beschreiben. Und Authentizität. Und das ist mir auf alle Fälle tausendmal lieber, als etwas Aalglattes. Macht interessant, nicht hässlich. 

 

Aufs eingangs erwähnte „Scheitern“ bezogen, könnte man doch sagen, dass man dadurch auf alle Fälle gewinnt. Man hat all jenen, wo alles glatt zu laufen scheint (ja manchmal sieht das ja auch nur nach außen so aus), etwas voraus! Ich weiß, jetzt driften wir ein bisschen ins Philosophische ab. Wobei – jetzt erst?

 

Wie auch immer. 

 

Ich finde, den Wabi-Sabi-Gedanke sehr inspirierend. Schon länger. Und immer wieder. Manchmal muss ich mich selbst daran erinnern. 

Perfectly imperfect. 

Imperfectly perfect.

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