Immer mal wieder taucht die Schlagzeile auf: „Sitzen ist das neue Rauchen“. Ertappt springen wir noch während dem Lesen auf, um dann wie bestellt und nicht abgeholt vor dem Tisch zu stehen.
Und jetzt?
Ach, na ja, so viel sitz ich ja gar nicht.
Also: wieder hinsetzen.
Die beste Gelegenheit, sich mal mit dem Sitzen auseinanderzusetzen: Los geht die Zeitreise in die Geschichte des Sitzens. Hinsetzen, anschnallen!
Wir starten mit meiner Lieblingsfrage zu dem Thema: Seit wann sitzen eigentlich Menschen?
Hmmmmm.
Hmmmmmmmmmm.
Na?
Häufige Antwort: Schon immer. Oder: seit sie aufrecht gehen.
Ok, das lassen wir mal so stehen.
Ich schiebe eine weitere Frage hinterher: worauf sitzen die Menschen denn so. Damals. Kurz nachdem sie aufrecht gingen?
Felsen, Baumstämme, dem Boden – hier dann tatsächlich eher ein kauern oder hocken.
Und warum?
In der Regel, um eine handwerkliche Tätigkeit zu verrichten oder zur Nahrungsaufnahme.
Und seit wann gibt es dann Stühle?
Tatsächlich entstehen etwa 5000 vor Christus die ersten vierbeinigen Stühle – also keine Hocker oder Schemel mehr, sondern „bequeme“ Sitzmöbel. Diese waren aber den Regenten, den Herrschern vorbehalten. Das normale Volk saß nicht auf einem Stuhl, sondern höchstens davor. Und damit war auch gleich die gesellschaftliche Ordnung geklärt: der auf dem Stuhl war wichtiger als der davor bzw. darunter.
Der auf dem Stuhl – sagen wir mal ein Pharao – hatte über das Sitzen hinaus auch nicht so viel zu tun. Der saß da, huldigte dem Volk und saß und regierte und saß und... (Ja, ich übertreibe, aber bekanntermaßen dient das ja der Verdeutlichung.) Die anderen, die nicht auf dem Stuhl saßen, die hatten auch soviel zu tun, dass sie gar nicht zum (länger) sitzen kamen. Wie gesagt, es sei denn, es gab einen triftigen Grund dafür. Tja, und bis sich so ein Thron „für alle“ durchsetzt, dauert es ganz schön lang. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts (ja, ja, in den 1950er Jahren) finden wir diesen Thronstuhl dann in den meisten Haushalten und für alle Haushaltsmitglieder gleichermaßen. Bis dahin war es so, dass der Hausvorstand – Vaddern - auf dem Thronstuhl saß und der Rest der Familie auf Bänken, Hockern, Schemeln.
Kann man übrigens noch heute schön beobachten. Stellen wir uns mal folgendes Bild vor: ein Tisch, um diesen herum Stühle in allen möglichen Varianten. Aber nur einer mit Armlehnen. Also wie so ein Thron eben in etwas aussieht. Wetten, auf diesem „Thron“ nimmt der Platz, der von den im Raum befindlichen Personen am ältesten/wichtigsten ist – oder zumindest glaubt es zu sein? Nicht umsonst wollen Kinder auch immer auf dem Lehnstuhl sitzen, auch „wichtig“ sein. Ist irgendwie in uns drin, ist ein tief verwurzeltes Muster... (Kritische Anmerkung am Rande: Muster kann man aber auch aufbrechen, die müssen nicht für immer so bleiben J).
Zurück zu unserer Zeitreise. Die eigentliche Geschichte des Sitzens beginnt im Zeitalter der Industrialisierung. Also in Europa (auf dem Kontinent) so um 1850 – in England schon ca. hundert Jahre zuvor. Denn seit diesem Zeitpunkt haben die Menschen „plötzlich“ mehr Zeit zum Sitzen. Es entsteht nämlich durch die aufkommenden bzw. zunehmenden Fabriken ein neues Arbeiten. Nicht mehr steht man dann auf und beginnt den Arbeitstag, wenn es hell wird und beendet ihn, wenn es dunkel wird. Sondern es sind nun Arbeitszeiten, an die man sich zu halten hat. Ja, die sind am Anfang schon noch sehr lang für die meisten Menschen, d.h. es hat schon immer noch sehr viel mit dem Tageslicht zu tun. Aber so langsam aber sicher kristallisiert sich eine Arbeitszeit auf der einen und eine freie Zeit (=Freizeit) auf der anderen heraus. Für die breite Masse. Nicht nur für den Adel und das gehobene Bürgertum.
Tja, und irgendwas muss man ja mit dieser vielen freien Zeit anfangen. Aktivitäten entwickeln sich. Vereine werden gegründet. Ein Blick auf die Gründungsjahre der allermeisten Fußballvereine bestätigt das. Alle Ende des 19. Jahrhundert gegründet – als erster in Deutschland übrigens Hertha BSC 1892. Tennisvereine, Wandervereine, ... you name it. Übrigens stieg auch die Zahl der Wirtshäuser im Verhältnis zur Bevölkerung. Und der Alkoholkonsum.
Was das alles mit dem Sitzen zu tun hat? Na, jetzt ist halt auch für einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerung mehr Zeit zum Sitzen. Noch nicht so viel wie heute bei uns, aber es wird eben immer mehr. Und weil immer mehr Personen sitzen, macht es auch zunehmend mehr Sinn, sich mit dem Sitzmöbel als solchem auseinanderzusetzen. Und darüber wie man sitzt.
Der „Stuhlpapst“ des 19. Jahrhunderts ist Michael Thonet. Er entwickelt die erste serienmäßige Produktion von Stühlen. Genauer gesagt Bugholzstühle. Also Stühle aus unter Wasserdampf und Wärme verbogenen Buchenholzstäben. Der Bestseller, der Stuhl mit der Typenbezeichnung Nr. 14, wird bis in die 1930er Jahre 50 Millionen Mal gebaut. Er ist noch heute als „Caféhausstuhl“ ungemein populär. War damals kostengünstig, seriell herstellbar, universell einsetzbar.
Bis heute hat das Stuhldesign unglaublich viele Varianten hervorgebracht. Neue Materialien eröffnen neue Möglichkeiten. Politische Umstände führen zu Statement-Möbeln. Und zwischendrin wir. Und wir sitzen. Dann auch zunehmend bitte schön bequemer. Nicht mehr nur auf einem Stuhl an einem Tisch! Sondern auch im Salon. Der Lounge. Auf der Chaiselongue. Dem Sessel. Fauteuil. Recamiere. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. (frei nach J. W. v. Goethes „Fischer“ von 1779).
Das hat auch wieder was mit der Arbeit zu tun. Und dem Gegenteil davon. Und wie wir diese verbringen. Das Sitzmöbel ist also Spiegel der Gesellschaft. Oder deren Abbild. Und in dem Fall sitzen wir mittendrin in den 1920er Jahren, den goldenen. Da wird gesessen und gelehnt. Lässig elegant. Rauchend. Trinkend. Cognac-schwenkend. Ja, Clubsessel und Loungemöbel erleben in dieser Zeit einen Boom. Der kurz darauf ein jähes Ende findet. Wirtschaftlich und historisch.
Dann die 1950er. Elastisch-plastisch und schön bunt. Für uns in Europa sehr amerikanisch inspiriert. Und – siehe oben – was das Sitzen angeht, emanzipieren wir uns. (Das war die Geschichte mit dem Hausvorstand.) Armlehnstühle für alle!
Interessanterweise „loungen“ wir mittlerweile selbst im Outdoor-Bereich. Während wir dort noch bis vor wenigen Jahren aufrecht am Tisch saßen, räkeln wir uns auch zunehmend. Was der Nachbar davon hält, ist uns pieps.
Und die Evolution des Sitzens dauert an.
...to be continued...
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